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  • Episode 28: Nachdenken über Belarus
    Nadine Menzel (Universität Bamberg) und Nina Weller (ZfL) sprechen über ihre Bücher zur gesellschaftlichen Situation und (Protest-)Kultur in Belarus. ———————— 2020 kam es im Gefolge der Präsidentschaftswahl in Belarus zu den größten Massendemonstrationen seit dem Ende der Sowjetunion. Das Lukaschenka-Regime begegnete ihnen mit massiven Repressionen. Keine drei Monate nach Beginn der Proteste erschien in Reaktion darauf die von Nina Weller mitherausgegebene Flugschrift »Belarus! Das weibliche Gesicht der Revolution«, in der über den feministischen Charakter der Proteste diskutiert wird. Die 2023 veröffentlichte Flugschrift »›Alles ist teurer als ukrainisches Leben‹« wiederum versammelt Stimmen aus der Ukraine, die sich gegen die Überheblichkeit wehren, mit der aus dem Westen allzu häufig auf die Ukraine geblickt und dabei die russische imperiale Bedrohung heruntergespielt wird. Während die Flugschriften aktivistisch-interventionistischen Charakter haben und sich auch als Handreichungen zum besseren Verständnis aktueller Entwicklungen verstehen, verfolgt der Sammelband »Appropriating History« ein wissenschaftlich-historisches Interesse. Ausgehend vom Befund, dass Geschichte in der Populärkultur von Belarus, Russland und der Ukraine allgegenwärtig ist, zielt ›Aneignung‹ dabei weniger auf die Usurpation historischer Ereignisse durch die dominante Kultur ab, sondern vielmehr auf die Neu(er)findung der Nationalgeschichte nach dem Ende der Sowjetunion. Dabei geht es auch um die Frage, in welchem Maße Geschichte als Unterhaltungsmedium und – nicht erst seit der Vollinvasion Russlands in die Ukraine – zunehmend auch als Waffe dient. Ein markantes Beispiel dafür liefert der Partisan, der in der Erinnerungskultur von Belarus sowohl als historische Gestalt wie auch als mythischer Held eine zentrale Rolle spielt. In den letzten Jahren erlebte das Partisanentum als Taktik einer dezentralen subversiven Aktion eine Renaissance: u.a. in Gestalt von ›Künstlerpartisanen‹ wie Artur Klinau und Igor Tishin oder der Cyber- und Schienenpartisanen der Gegenwart. Eine kritische Hinterfragung des Partisanenmythos hingegen fand bereits im 1975 erschienenen Buch »Feuerdörfer« statt, das nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Die von Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik geführten und collagierten Interviews mit Überlebenden der Wehrmachtsverbrechen in Belarus liefern ein vielstimmiges Bild der Geschichte und gelten als wegweisend für das dokumentarische Erzählen zeitgenössischer Autor*innen wie Swetlana Alexijewitsch. Traditions- und Einflusslinien geht schließlich auch der von Iryna Herasimovich, Nadine Menzel und Nina Weller herausgegebene Band »Befragungen am Nullpunkt« nach. Er verfolgt das Ziel, die unabhängige belarusische Kultur – vertreten durch A. Slabodchykava, A. Klinaŭ, Z. Vishnioŭ, M. Gulin und J. Dziwakoŭ – bekannter zu machen und zeigt historische Vorläufer heutiger Bewegungen und Kunstformen auf. Damit setzt er der häufigen Fixierung auf Belarus als ›letzte Diktatur‹ und ›blinder Fleck‹ Europas Zeugnisse des beharrlichen Widerstands und des Kampfes um die (Rück-)Eroberung von staatlich okkupierten Räumen der Kultur und des Austauschs entgegen. ———————— Die Slawistin und Literaturwissenschaftlerin Nina Weller ist seit 2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Anpassung und Radikalisierung«. Bis 2022 leitete sie ein Projekt zu Geschichtsbildern in der belarussischen, russischen und ukrainischen Kultur an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und war zuvor an der LMU München, der FU Berlin und der Universität Potsdam beschäftigt. Nadine Menzel ist Slawistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Slavische Kunst- und Kulturwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Zuvor war sie an der Universität Leipzig tätig, wo sie 2015 mit einer Arbeit zu Reiseschriften über das postrevolutionäre Russland promovierte. www.zfl-berlin.org
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    1:02:38
  • Episode 27: Afrotopia
    Jenaba Samura spricht mit Liola Mattheis (beide ZfL) über ihren Essay »Afrotopia. Schwarze Konstruktionen von Gender und Sexualität« (Berlin: Querverlag 2025). Darin kritisiert sie die weitverbreitete Vorstellung, dass Schwarzsein und Queerness einander ausschließen, und untersucht die Verwobenheit von Geschlecht und Sexualität mit kolonialen Praktiken und Prozessen der Rassifizierung. ———————— Samura verbindet in der integrativen Form des Essays persönliche Erfahrungen mit wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Beobachtungen. Besonders kritisch beleuchtet sie das Whitewashing queerer Geschichte sowie die Aneignung Schwarzer Ästhetiken und Praktiken der Lebensgestaltung. Dabei zeigt sie, dass Konzepte wie Nichtbinarität keine westlichen Erfindungen sind, sondern dass umgekehrt die rigide binäre Geschlechterordnung ein kolonialer Export ist, der als Teil einer ›colonization of the mind‹ begriffen werden kann. Dies wird anhand der deutschen Kolonialgeschichte und der Bedeutung ›weißer‹ deutscher Frauen für die Konsolidierung der kolonialen (Geschlechter-)Ordnung in Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia) deutlich. Ihre gezielte Aussiedlung, die von der ersten Frauenbewegung als feministisches Aufstiegsprojekt gepriesen wurde, sollte sogenannte Mischehen und somit die Weitergabe der Staatsbürgerschaft an Nichtweiße verhindern. Dieses koloniale Projekt der Etablierung ›weißer‹ Vorherrschaft ging mit der Kriminalisierung von Homosexualität durch den aus dem Kaiserreich exportierten § 175 einher. Generell lässt sich im Zuge der Etablierung einer auf Reproduktion ausgerichteten heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit in Europa die Tendenz feststellen, sexuelle ›Abweichungen‹ wie Homosexualität und Polygamie außerhalb Europas zu verorten. Nichtweiße Sexualität und Geschlechtlichkeit wurden dabei häufig widersprüchlich gezeichnet, Schwarze Körper z.B. gleichzeitig de- und hypersexualisiert. Im Bild des ›virgin land‹ verschmelzen schließlich Vorstellungen des zu erobernden Lands mit solchen von der Schwarzen Frau, was der Legitimierung kolonialer und sexualisierter Gewalt dient. Samura betrachtet jedoch nicht nur koloniale sowie cis- und heterosexistische Gewalt, sondern auch im heutigen Sinne queere Personen und Praktiken in der afrikanischen Geschichte. Deren Erforschung ist mit methodischen Herausforderungen verbunden. Zum einen besteht die Gefahr, heutige Identitätskategorien rückwirkend auf historische Kontexte zu übertragen und dabei präzisere lokale Konzepte zu verdrängen. Zum anderen gibt es große Lücken im Archiv, und vorhandenes Material stammt oft von Kolonialbeamten und muss kritisch betrachtet werden. ›Critical fabulation‹ im Sinne Saidiya Hartmans kann helfen, diese Lücken zu füllen. Insgesamt eröffnen historische Beispiele des Widerstands und der ›Abweichung‹ von hegemonialen Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität Perspektiven für ein utopisches Nachdenken, in dem sich Vorstellungen von Afro- und Queertopia verbinden. ———————— Die Literaturwissenschaftlerin Jenaba Samura ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Schwarze Narrative transkultureller Aneignung: Literarische Akte des Konstruierens afroeuropäischer Welten und der Infragestellung europäischer Grundlagen«. In ihrem Dissertationsprojekt untersucht sie afropäische Reiseberichte als Gegenerzählungen zu kolonial-ethnografischen Darstellungen. Liola Mattheis ist Kulturwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Aitiologien in den Wirklichkeitserzählungen der Naturwissenschaften: Zur epistemischen Funktion von Ursprungs(re)konstruktionen«. Sie promoviert zu rekapitulativen Entwicklungsideen in Evolutionsbiologie und marxistischer Theorie. www.zfl-berlin.org
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    38:30
  • Episode 26: Ernst Jünger
    Detlev Schöttker spricht mit Claude Haas über sein Buch »Die Archive des Chronisten. Ernst Jüngers Werke und Korrespondenzen« (Wallstein 2025). Darin zeigt er Jünger als Chronisten des 20. Jahrhunderts, der keineswegs bloß historische Tatsachen aneinanderreiht, sondern sich als Geschichtsdeuter versteht. Das auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Vorbilder zurückgehende Darstellungsverfahren der Chronik macht sich Jünger gattungsübergreifend zu eigen, in Tagebüchern und Briefwechseln, Kriegsberichten, Romanen und Essays. ———————— Jüngers Schreiben zeichnet sich durch eine Tiefe der Beobachtung aus, die erst durch die Distanz zum Geschehen möglich wird und die Jünger in seinem »Sizilianischen Brief an den Mann im Mond« zum poetologischen Prinzip erhebt. Diese Distanziertheit birgt jedoch auch eine gewisse Kälte in sich, die in der Rezeption immer wieder für Irritationen gesorgt hat. Das trifft besonders auf die »Strahlungen« zu, mit deren Veröffentlichung 1949 Jünger früh literarisches Zeugnis von Konzentrationslagern, Gestapo- und SS-Gefängnissen ablegte. Jüngers Schilderungen des Luftkriegs über Paris wurde der Vorwurf gemacht, das Schrecken zu ästhetisieren. Als bisweilen verstörend wurden Jüngers Versuche gewertet, den Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten im Geiste einer Universalgeschichte in ein größeres Sinngeschehen zu integrieren oder doch zumindest Erklärungsansätze dafür zu liefern. Von vielen als reaktionär bewertet, kann seine distanzierte Betrachtung der Geschehnisse wohl mindestens als eskapistisch gelten. Jüngers universalgeschichtlicher Zugriff stößt hier an eine politische Grenze. Andererseits erlaubt es Jüngers Betonung der starken Einzelpersönlichkeit des Geschichtsdeutenden, ihn entgegen gängigen Kategorisierungen als Vertreter der Moderne zu betrachten – selbst wenn der universalgeschichtliche Gestus seiner Chronistik in den literarischen Werken häufig in Kitsch umschlägt. Anders verhält es sich mit den Briefen, denen Schöttker neben den Tagebüchern besondere Aufmerksamkeit schenkt. Der Brief galt Jünger als die wichtigste historische Quelle überhaupt. Der schiere Umfang des Briefarchivs, an dessen Form und Organisation Jüngers zweite Ehefrau Liselotte als ausgebildete Archivarin maßgeblichen Anteil hatte, zeugt von der herausragenden Bedeutung, die er der Korrespondenz als partnerschaftlicher Form der Verbindlichkeit und des intellektuellen Austauschs beimaß. Für den ›Archivautor‹ Jünger, der bereits zu Lebzeiten bemüht war, sein Nachleben, mithin seine Unsterblichkeit zu sichern, hatten die sorgsam archivierten Briefwechsel noch eine weitere Bedeutung: Bei der Lektüre nimmt man posthum Anteil am persönlichen Leben der Schreibenden, die einem somit (fast) lebendig erscheinen. ———————— Der Literatur- und Medienwissenschaftler Detlev Schöttker ist Senior Fellow des ZfL und erforschte dort das Briefarchiv Ernst Jüngers. Derzeit leitet er das Projekt »Kommentierte Edition des Briefwechsels zwischen Ernst und Friedrich Georg Jünger (1908–1977)«. Der Germanist und Komparatist Claude Haas ist Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur am ZfL und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Schwerpunktprojekt »Stil. Geschichte und Gegenwart«. www.zfl-berlin.org
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    46:18
  • Episode 25: Historizität und Historisierung
    Henning Trüper spricht mit Falko Schmieder über sein Buch »Unsterbliche Werte. Über Historizität und Historisierung« (Wallstein 2024). Darin setzt er sich mit elementaren geschichtsphilosophischen Kategorien und Methoden auseinander und unterzieht die Geschichtswissenschaft einer grundlegenden Kritik. Denn diese, so seine Diagnose, ist nicht nur, wie schon Koselleck befand, theorie-, sondern auch therapiebedürftig. ———————— Die Debatten um das Ende der Geschichte (Fukuyama) und die breite Gegenwart (Gumbrecht), aber auch die als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ausgerufene ›Zeitenwende‹ machen deutlich, wie umkämpft das Feld der Geschichte ist. Dass die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Disziplin nicht neu ist, zeigt die Kritik am Fortschrittsnarrativ der Geschichtsphilosophie. Auch Henning Trüper versteht Geschichte nicht als progressiven Lernprozess, sondern zeichnet nach, welche teils widersprüchlichen Antworten zu verschiedenen Zeiten auf die Frage gegeben wurden, was Geschichtlichkeit ist. Die Kritische Theorie hat Geschichtlichkeit vor allem im Sinne der Veränderlichkeit von Denkformen und Begriffen verstanden. Trüpers Interesse gilt demgegenüber den Praktiken des Historisierens: Mit welchem Ziel wird Vergangenes zu Geschichtlichem erklärt und als solches erinnert, welchen Ereignissen wird historischer Wert beigemessen und warum? Diese Wertsetzungen sind stets veränderlich und folgen bestimmten Motivationen, wie bereits Nietzsches Unterscheidung verschiedener Arten von Historisierung in der zweiten »Unzeitgemäßen Betrachtung« zeigt. Wann und wie aber erhalten diese flüchtigen Werte den Charakter von ›unsterblichen Werten‹, also von moralischen Normen? Und in welchem Verhältnis zur Geschichte stehen vermeintliche Nebensachen wie Moral, Humanitarismus oder auch naturgeschichtliche und philosophische Diskurse über das Aussterben? Ein Blick auf die Textgestalt und die Funktion von Intertextualität in der Geschichte hilft, sich diesen Fragen zu nähern. Die Neulektüre geschichtswissenschaftlicher Klassiker und deren Kombination mit unbekannten, in Vergessenheit geratenen Texten und Autoren führt bei Trüper zu einer aphoristischen, umwegigen, bisweilen ironischen Darstellung, die gleichwohl systematische Ansprüche verfolgt. Gegen Relativierungen und den Zerfall der Geschichte in plurale Geschichten setzt er einen starken Begriff von Geschichte: Die Tätigkeit des Geschichtlichmachens erzeugt ihren Gegenstandsbereich, der als Teil der Wirklichkeit real und wirkmächtig ist. ———————— Henning Trüper ist Historiker und leitet das ERC-Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800« am ZfL. Seit Januar 2024 ist er Associate Professor an der Universität Oslo. Der Kulturwissenschaftler Falko Schmieder leitet das Schwerpunktprojekt »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland« am ZfL. www.zfl-berlin.org
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    37:47
  • Episode 24: Klassische Tragödie
    Claude Haas spricht mit Eva Geulen über sein Buch »Der König, sein Held und ihr Drama. Politik und Poetik der klassischen Tragödie« (Wallstein 2024). An der vermeintlich überholten Form der klassischen Tragödie interessieren ihn vor allem ihre Unwahrscheinlichkeit und der Kontrast zwischen Formstrenge und unterschwelligem Chaos. Außerdem bietet sie Anknüpfungspunkte für Debatten über die Rückkehr des Helden und Fragen der Souveränität in der heutigen Politik. ———————— Bei Corneille dient die klassische Dramenform der (Be-)Gründung absolutistischer Politik. Die aristotelischen Einheiten von Raum, Zeit und Handlung werden in den Dienst der Staatsgründung gestellt, der Souverän als derjenige inszeniert, der Gewohnheiten institutionalisiert und mit dem Helden dessen Machtverzicht verhandelt. Die Komplizenschaft von König und Held kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide als Verbrecher Recht stiften. Solche rechtspolitischen Probleme verschärft Racine dadurch, dass er hinter der Bühne das Volk als eine volatile Masse zu erkennen gibt, die die politische Handlung vor sich hertreibt. Weder König noch Held können die Ordnung stabilisieren und echte Souveränität schaffen. In der deutschen Rezeption galten die Dramen der tragédie classique oft als hölzern und formalistisch, im Gegensatz zur vermeintlich freieren und natürlicheren Darstellung Shakespeares. Und doch gibt es im ausgehenden 18. Jahrhundert Rückgriffe auf die Regelpoetik, die als nostalgische Versuche interpretiert werden können, Ordnung in die nach der Französischen Revolution in Unordnung geratene Welt zu bringen. In ihnen scheinen jedoch stets das Wissen um deren Nichtrestaurierbarkeit und die Einsicht durch, dass sich Politik nicht letztendlich begründen lässt. Aus dem Grund sind es vor allem die Schwierigkeiten, Widersprüche und unauflösbaren Reste der klassischen französischen Tragödie, an die Goethe und Schiller anknüpfen. Dennoch scheint die klassische Form spätestens in der Weimarer Klassik aus der Zeit gefallen. Nicht nur ist der Machtverzicht des Helden – bei Corneille noch als bewusster Willensakt inszeniert – hier eher Ausdruck seiner Ohnmacht: Goethes Tasso beruft sich auf ein am Hof bereits überholtes Politikverständnis, Schillers Wilhelm Tell hat zwar noch heroische Auftritte, liefert aber keinen Beitrag zur Neugründung der Schweiz. Auch die Einheit der Zeit, von der der Anschein der Zeitunabhängigkeit und universellen Gültigkeit des souveränen Rechts abhängt, wird ironischerweise nur noch in der »Iphigenie auf Tauris« eingehalten, wo das Recht bereits gegründet und sie folglich funktionslos ist. Spätestens der »Faust« markiert das Ende solcher Versuche, die Einheit der klassischen Form zu stiften. Zwar finden sich hier noch vereinzelt Form- und Stilelemente der klassischen Tragödie, doch ist die moderne Tragödie und mithin die Moderne mit dem Geld durch eine völlig andere Gründungsökonomie strukturiert als der absolutistische Staat. Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, inwiefern Analysen der klassischen Tragödie Schlüsse für gegenwärtige Fragen nach dem Zusammenhang von ästhetischer Form und politischen Anliegen zulassen. Angesichts autoritärer politischer Akteure, die sich aufführen wie Heroen und Könige, ist mitunter ein unbewusster identifikatorischer Rückgriff auf das klassische Drama zu beobachten. Dem setzt Haas eine an der Analyse der dramatischen Form geschulte Sensibilität für die Unterschiede zwischen historischem Geschehen und Gegenwart entgegen. ———————— Der Germanist und Komparatist Claude Haas ist Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur am ZfL und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Schwerpunktprojekt »Stil. Geschichte und Gegenwart«. Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL, Vorstandsmitglied der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin und Professorin für europäische Kultur- und Wissensgeschichte am Institut für Kulturwissenschaft der HU Berlin. www.zfl-berlin.org
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    38:18

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Für »Bücher im Gespräch«, den Podcast des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (ZfL), unterhalten sich Wissenschaftler*innen über ihre neuen Publikationen.
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Generated: 12/1/2025 - 7:41:20 AM