Der Zeitgeist
Zu lang schon waltest über dem Haupte mir, Du in der dunkeln Wolke, du Gott der Zeit! Zu wild, zu bang ist's ringsum, und es Trümmert und wankt ja, wohin ich blicke.
Ach! wie ein Knabe, seh' ich zu Boden oft, Such' in der Höhle Rettung von dir, und möcht', Ich Blöder, eine Stelle finden, Alleserschütt'rer! wo du nicht wärest.
Laß endlich, Vater! offenen Aug's mich dir Begegnen! hast denn du nicht zuerst den Geist Mit deinem Strahl aus mir geweckt? mich Herrlich ans Leben gebracht, o Vater! —
Wohl keimt aus jungen Reben uns heil'ge Kraft; In milder Luft begegnet den Sterblichen, Und wenn sie still im Haine wandeln, Heiternd ein Gott; doch allmächt'ger weckst du
Die reine Seele Jünglingen auf, und lehrst Die Alten weise Künste; der Schlimme nur Wird schlimmer, daß er bälder ende, Wenn du, Erschütterer! ihn ergreifest.
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1:20
Mörike - Im Frühling
Im Frühling
Eduard Mörike
Hier lieg' ich auf dem Frühlingshügel:
Die Wolke wird mein Flügel,
Ein Vogel fliegt mir voraus.
Ach, sag' mir, alleinzige Liebe,
Wo d u bleibst, dass ich bei dir bliebe!
Doch du und die Lüfte, ihr habt kein Haus.
Der Sonnenblume gleich steht mein Gemüte offen,
Sehnend,
Sich dehnend
In Liebe und Hoffen.
Frühling, was bist du gewillt?
Wann werd ich gestillt?
Die Wolke seh ich wandeln und den Fluss,
Es dringt der Sonne goldner Kuss
Mir tief bis ins Geblüt hinein;
Die Augen, wunderbar berauschet,
Tun, als schliefen sie ein,
Nur noch das Ohr dem Ton der Biene lauschet.
Ich denke dies und denke das,
Ich sehne mich, und weiß nicht recht, nach was:
Halb ist es Lust, halb ist es Klage;
Mein Herz, o sage,
Was webst du für Erinnerung
In golden grüner Zweige Dämmerung?
- Alte unnennbare Tage!
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1:16
Heine - Und wüsstens die Blumen
Heinrich Heine: Und wüssten's die Blumen
Und wüssten's die Blumen, die kleinen,
Wie tief verwundet mein Herz,
Sie würden mit mir weinen,
Zu heilen meinen Schmerz.
Und wüssten's die Nachtigallen,
Wie ich so traurig und krank,
Sie ließen fröhlich erschallen
Erquickenden Gesang.
Und wüssten sie mein Wehe,
Die goldnen Sternelein,
Sie kämen aus ihrer Höhe,
Und sprächen Trost mir ein.
Die alle können's nicht wissen,
Nur Eine kennt meinen Schmerz:
Sie hat ja selbst zerrissen,
Zerrissen mir das Herz.
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0:46
Henley - Invictus
Invictus - William Ernest Henley
Out of the night that covers me,
Black as the pit from pole to pole,
I thank whatever gods may be
For my unconquerable soul.
In the fell clutch of circumstance
I have not winced nor cried aloud.
Under the bludgeonings of chance
My head is bloody, but unbowed.
Beyond this place of wrath and tears
Looms but the horror of the shade,
And yet the menace of the years
Finds and shall find me unafraid.
It matters not how strait the gate,
How charged with punishments the scroll,
I am the master of my fate: I am the captain of my soul.
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0:53
Droste-Hülshoff - Ein milder Wintertag
Ein milder Wintertag
An jenes Waldes Enden,
Wo still der Weiher liegt
Und längs den Fichtenwänden
Sich lind Gemurmel wiegt;
Wo in der Sonnenhelle,
So matt und kalt sie ist,
Doch immerfort die Welle
Das Ufer flimmernd küßt:
Da weiß ich, schön zum Malen,
Noch eine schmale Schlucht,
Wo all die kleinen Strahlen
Sich fangen in der Bucht;
Ein trocken, windstill Eckchen,
Und so an Grüne reich,
Daß auf dem ganzen Fleckchen
Mich kränkt kein dürrer Zweig.
Will ich den Mantel dichte
Nun legen übers Moos,
Mich lehnen an die Fichte,
Und dann auf meinen Schoß
Gezweig' und Kräuter breiten,
So gut ich's finden mag:
Wer will mir's übel deuten,
Spiel ich den Sommertag?
Will nicht die Grille hallen,
So säuselt doch das Ried;
Sind stumm die Nachtigallen,
So sing' ich selbst ein Lied.
Und hat Natur zum Feste
Nur wenig dargebracht:
Die Lust ist stets die beste,
Die man sich selber macht.
Annette von Droste-Hülshoff
🎙️ Laut gedacht – der Gedichte-Podcast von Erkenntnistheoretiker.de
Gedichte, gesprochen – ohne Eile, ohne Musik, aber mit Stimme und Gefühl.
Ein Raum für Sprache, Stille und das, was zwischen den Zeilen liegt.
Für alle, die Worte lieben, Gedanken nachklingen lassen und Poesie atmen wollen.