G 1/03 - "Disclaimer" - Entscheidung
In dieser zweiten und abschließenden Folge sprechen Lukas Fleischer und Michael Stadler über die verbundenen Entscheidungen G 1/03 und G 2/03 der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts aus dem Jahr 2004, wobei diese Episode die Leitsätze in Zusammenhang mit der Einführung von nicht ursprungsoffenbarten Disclaimern und die Auflösung der Ausgangsfälle behandelt. Auch diskutiert werden die unterschiedlichen Herangehensweisen in Zusammenhang mit der Abgrenzung von älteren Rechten, nämlich dem vom EPA nunmehr praktizierten Whole-Content-Approach und dem Prior-Claim-Approach.
Zusammenfassung
Die Große Beschwerdekammer kam zu dem Schluss, dass nicht ursprungoffenbarte (undisclosed) Disclaimer grundsätzlich möglich sind. Disclaimer kann man aus drei Gründen eingeführt werden, nämlich
- um Neuheit gegenüber einem älteren Recht herzustellen,
- um Neuheit gegenüber einer zufälligen Vorveröffentlichung herzustellen, und
- um Gegenstände auszuklammern, die aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgeschlossen sind.
Unter einer zufälligen Veröffentlichung versteht man eine Veröffentlichung, die so unerheblich für die beanspruchte Erfindung ist und so weitab von ihr liegt, dass sie der Fachmann bei der Erfindung nicht berücksichtigt hätte, jedoch kommt dies in der Praxis äußerst selten vor.
Ein Disclaimer darf weiters nicht mehr ausschließen als unbedingt erforderlich und muss klar sein.
Ausgang der Vorlagefälle:
Im ersten Vorlagefall (beschichtetes Glassubstrat) wurde die Zufälligkeit des Stand der Technik Dokuments verneint, sodass kein Disclaimer zulässig war. Die Patentinhaberin musste auf eine herkömmliche Einschränkung zurückgreifen und Schichtzusammensetzungen aus dem Anspruch streichen, konnte so aber das Patent in beschränktem Umfang - aber ohne Disclaimer - verteidigen.
Im zweiten Vorlagefall (HIV-Test) wurden insgesamt 12 undisclosed Disclaimer eingeführt, um sich vom älteren Recht abzugrenzen. Diese Disclaimer wurden auch als zulässig angesehen, jedoch wurde der derart beschränkte Anspruch als nicht neu befunden. Auch in diesem Fall konnte das Patent durch entsprechende Änderungen des Anspruchs ohne Disclaimer aufrecht erhalten werden.
Leitsätze
I. Die Änderung eines Anspruchs durch die Aufnahme eines Disclaimers kann nicht schon deshalb nach Artikel 123 (2) EPÜ abgelehnt werden, weil weder der Disclaimer noch der durch ihn aus dem beanspruchten Bereich ausgeschlossene Gegenstand aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung herleitbar ist.
II. Die Zulässigkeit eines in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht offenbarten Disclaimers ist nach folgenden Kriterien zu beurteilen:
II.1 Ein Disclaimer kann zulässig sein, wenn er dazu dient:
- die Neuheit wiederherzustellen, indem er einen Anspruch gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) und (4) EPÜ abgrenzt;
- die Neuheit wiederherzustellen, indem er einen Anspruch gegenüber einer zufälligen Vorwegnahme nach Artikel 54 (2) EPÜ abgrenzt; eine Vorwegnahme ist zufällig, wenn sie so unerheblich für die beanspruchte Erfindung ist und so weitab von ihr liegt, daß der Fachmann sie bei der Erfindung nicht berücksichtigt hätte; und
- einen Gegenstand auszuklammern, der nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgeschlossen ist.
II.2 Ein Disclaimer sollte nicht mehr ausschließen, als nötig ist, um die Neuheit wiederherzustellen oder einen Gegenstand auszuklammern, der aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgeschlossen ist.
II.3 Ein Disclaimer, der für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit oder der ausreichenden Offenbarung relevant ist oder wird, stellt eine nach Artikel 123 (2) EPÜ unzulässige Erweiterung dar.
II.4 Ein Anspruch, der einen Disclaimer enthält, muß die Erfordernisse der Klarheit und Knappheit nach Artikel 84 EPÜ erfüllen.